Gruseliges

Die Ahnfrau im Schlosse Herten.

Etwa eine Stunde von Wanne im Kreise Gelsenkirchen liegt in einer muldenförmigen Vertiefung das altersgraue Schloß Herten, wo im 12. Jahrhundert das Geschlecht derer von Herten hauste, stark und kraftvoll wie die Baumriesen, die den Schlosshof beschatteten, aber auch trotzig und unzugänglich wie die Mauern ihre Feste. Ein durch seinen starren, kriegerischen Sinn berüchtigter und gefürchteter Burginhaber besaß eine einzige, bildhübsche Tochter, an der er trotz seiner rauen Sitten nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit größter Liebe hing und ihr jeden Wunsch erfüllte, den er ihr an den Augen ablesen konnte.

Nun stand ganz in der Nähe ein zweites Schloß, auf dem die Edlen von Schwansbell wohnten, eine Seitenlinie der Grafen von Schwansbell, die ihren Stammsitz an der Lippe hatten, aber seit dem 14. Jahrhundert verschollen sind. Der damalige Schloßherr, ein mutiger und kühner Mann, der schon manchen Strauß glücklich bestanden hatte und im Volksmunde schlichtweg »Kuno Ohnegrusen« genannt wurde, geriet mit dem Besitzer von Herten wegen Grenzregelungen in tödliche Feindschaft. Gegenseitige Angriffe auf ihre Burgen wurden mutig und kraftvoll abgeschlagen, und die beiden begnügten sich schließlich damit, einander soviel wie möglich an dem beweglichen Eigentum zu schaden.

Nun hatte Kuno Ohnegrusen einen Sohn, der trotz aller Feindschaft der Väter in glühender Liebe zu der Tochter des Grafen von Herten entbrannte; das Verhältnis wurde von den alten Dienern des Burgfräuleins in jeder Weise begünstigt. Als der Graf von Herten nun eines Tages daran dachte, seine Tochter zu verheiraten und ihr einen ihm geeignete Freier vorschlug, begegnete er entschiedenem Wiederstande, den er sich nicht zu erklären wußte. Der abgewiesene Freier ruhte aber nicht eher, als bis er das Geheimnis ergründet und es dem Burggrafen mitgeteilt hatte, der in maßlosen Zorn geriet und schwur, dass eine Verbindung mit dem Sohne Kunos niemals erfolgen dürfe. Als sein Töchterlein den Abgewiesenen trotzdem nicht nehmen wollte, ließ er es in ein schauerliches Verließ werfen, das mit einem kleinen vergitterten Fenster an die trübe, dunkle Wasserflut des Schloßteiches grenzte. Nur zwei Bedingungen waren gestellt, entweder den Freier zu nehmen oder eines qualvollen Hungertodes zu sterben. Sobald ihr Erkorener von der ihr zugefügte Schmach hörte, wollte er seine Liebste mit Gewalt aus dem Kerker befreien, fand dabei aber seinen Tod im Burggraben. Seine Braut starb kurze Zeit darauf an gebrochenem Herzen, als sie das Ende ihres Verlobten erfahren hatte. Sie konnte aber keine Ruhe im Tode finden und sucht sich noch jetzt mit ihrem Geliebten zu vereinigen. Erscheint der Wochentag, an dem sie starb, so hört man gegen Mitternacht ein Rasseln, Klirren und Stöhnen in dem Burgverlies und dann ein Plätschern im Wasser.

Nach den schrecklichen Vorgängen verhärtete sich das Herz des Burggrafen noch mehr, und er wurde ein menschenscheuer, finsterer Mann, der von innerer Unrast von einer Bosheit zur andern getrieben wurde, wofür er bald den gerechten Lohn erhielt. Es war am Todestage seiner Tochter, als sich der Graf wieder einmal ruhelos auf seinem Lager wälzte. Da dröhnten von der kleinen Burgkapelle her zwölf dumpfe Glockenschläge an sein Ohr. Wie von bösen Geistern gepeitscht, sprang er auf und eilte an das nahe Schloßfenster. Auf der glitzernden Wasserfläche des Schloßteiches stand im geisterhaften Mondschein eine Frauengestalt mit blutüberströmtem Gewande, in der Hand ein Toten Gerippe tragend. Mit geisterhaften Schritten schien sie sich zu nähern, bis sie dicht vor dem Grafen im Nebel verschwand. Kaum hatte sich der Graf etwas von dem Schrecken erholt, so erdröhnten die Glocken der Kapelle abermals; diesmal läuteten sie Sturm. Der Rächer des ermordeten Sohnes war in das Schloß eingedrungen, und bald erlag der Schloßherr den Schwertern seiner Feinde. Von jetzt an wurde die Gestalt häufiger gesehen; aber ihr Erscheinen war stets mit Unglück verbunden, und die Schloßbewohner fürchteten ihr Kommen.

Mit der Zeit schlummerte die Sage von der Ahnfrau ein, und die Bewohner der Burg erinnerten sich ihrer nur noch dunkel. In einer stürmischen Herbstnacht saß eine junge Gräfin am Tische und harrte ängstlich der Wiederkehr ihres Gemahls, der ihr feierlichst versprochen hatte, spätestens heute einzutreffen. Allmählich schlossen sich ihre Augenlieder aber, und sie schlummerte sanft ein. Ein heftiger Windstoß, der die Fugen des Schlosses erzittern machte, weckte sie aus ihrem Schlummer auf. Als der Mond einige Augenblicke durch die grauen, bleiernen Wolken sichtbar wurde, zeigte sich ein seltsames Schauspiel. Langsam wandelte eine in ein blutrotes Gewand gehüllte Frauengestalt über die Wasserfläche dem nahen Turme zu und verschwand in dem alten Gemäuer. Eine Ohnmacht umnachtete die Sinne der jungen Gräfin. Wie lange sie bewusstlos war, wusste sie nicht; beim Erwachen glaubte sie die Gestalt aber noch zu sehen und klingelte heftig nach ihrem Kammermädchen. Erst nach geraumer Zeit erschien das Mädchen mit verstörten Mienen und berichtete ihrer Herrin zitternd, wie die Ahnfrau dem Torwächter und einigen Dienern erschienen wäre. Das Unglück, das die Erscheinung ankündigte, sollte bald eintreten. Mit dem Morgengrauen stieß der Wächter ins Horn. Die Leiche des in der Nacht vom Pferde gestürzten Schloßherrn wurde eingebracht.

Die Ahnfrau ist ihrem Geschlechte noch oft erschienen, um Unglück anzusagen, und noch heute ist die Sage von ihr im Volke allgemein bekannt.

Quellennachweis: www.sagenhaftes-ruhrgebiet.de/Die_Ahnfrau_im_Schlosse_Herten

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